L. Szondi


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S Novym Godom i S Rozhdestvom Hristovym






Alois Altenweger, Annie Bemer, Karl Bürgi, Friedjung Jüttner, Margrit Kramer

Prolog

von Klaus Mann in "der Wendepunkt"

"Wo beginnt die Geschichte? Wo sind die Quellen unseres individuellen Lebens? Welche versunkenen Abenteuer und Leidenschaften haben unser Wesen geformt? Woher kommt die Vielfalt widerspruchsvoller Zuge und Tendenzen, ans denen unser Charakter sich zusammensetzt?

Ohne Frage, wir sind tiefer verwurzelt, als unser Bewusstsein es wahrhaben wiii. Niemand, nichts ist zusammenhanglos. Ein umfassender Rhythmus bestimmt unsere Gedanken und Handlungen; unsere Schicksalskurve ist Teil eines gewaltigen Mosaiks, das durch Jahrhunderte hindurch dieselben uralten Figuren prägt und variiert. Jede unserer Gesten wiederholt einen urväterlichen Ritus und antizipiert zugleich die Gebärden künftiger Geschlechter; noch die einsamste Erfahrung unseres Herzens ist die Vorwegnahme oder das Echo vergangener oder kommender Passionen.

Es ist ein langes Suchen und Wandern: Wir mögen es zurückverfolgen bis ins fahle Zwielicht der Höhle, des barbarischen Tempels. Das blutige Zeremoniell der Darbringung geht weiter in unsren Träumen in unsrem Unterbewußtsein widerhallen die Schreie vom primitiven Altar, und die Flamme, die das Opfere verzehrt, sendet noch immer ihre flackernden Lichter. Die atavistischen Tabus und inzestuösen Impulse früher Generationen bleiben in uns lebendig ; die tiefste Schicht unseres Wesens büßt für die Schuld der Ahnen; unsre Herzen tragen die Last vergessenen Kummers und vergangen Qual. Woher stammt diese Unruhe in meinem Blut?.


Die Schicksalsanalyse nach Leopold Szondi
Text der Konzept- und Ausbildungskommission der

Stiftung Szondi-Institut

Krähbühlstrasse 30

8044 Zürich

Alois Altenweger, Annie Bemer, Karl Bürgi, Friedjung Jüttner, Margrit Kramer

Wir Schicksalsanalytiker sind überzeugt, daß die Schicksalsanalyse auch dem heutigen Menschen in seinen Nöten wie Einsamkeit, Bewußtseinswandel oder Existenzangst und Süchtigkeit, wertvolle Hilfe anbieten kann. Wir stellen im folgenden diese Psychologie in Theorie und Praxis gerafft dar, wobei wir drei Schwerpunkte setzen:

1. Das Menschenbild der Schicksalsanalyse

2. Die Krankheitslehre der Schicksalsanalyse

3. Die Therapie der Schicksalsanalyse.

„Schicksal, das wußte Er jetzt, kam nicht von irgendwo her, es wuchs im eigenen Innern." Hermann Hesse

1. Das Menschenbild der Schicksalsanalyse

1.1 Schicksal

Leopold Szondi stellte den Begriff "Schicksal" in den Mittelpunkt seiner Psychologie, denn damit hatte er den Ausdruck gefunden, der alles, was das Leben eines Menschen Betrifft, zusammenfaßt, ähnlich wie die Schlüsselbegriffe Archetypus oder Dasein (1956, 32).

Im landläufigen Sinn wird das Wort Schicksal höchst einseitig als das Wirken unbeeinflußbarer Mächte verstanden. Nicht so in der Schicksalspsychologie. Hier wird der Mensch als ein Wesen begriffen, daß zwar von Anbeginn seines Lebens Zwängen unterworfen ist, aber mit zunehmender Reife die Chance hat, unter seinen Möglichkeiten zu wählen und damit Freiheit zu verwirklichen. Darum unterscheidet die Schicksalspsychologie zwischen Zwangs- und Freiheitsschicksal.

1.1.1 Das Zwangsschicksal

Zum Zwangsschicksal eines Menschen gehört das Erbe, also zunächst alles, was ihm von seinen Vorfahren mitgegeben wurde. Die Erbtheorie findet heute in vielen Forschungsergebnissen eine neue Bestätigung. Die von Szondi formulierte Gentheorie, d. h. die Art und Weise, wie diese Vererbung zu verstehen ist, entspricht hingegen in ihrer Einfachheit nicht mehr dem Stand heutiger Erkenntnisse.

Die Trieb- und Affektnatur eines Menschen ist ebenfalls Teil seines Zwangsschicksals. Dabei nimmt die Schicksalspsychologie an, daß jeder Mensch mit den gleichen Grundbedürfnissen ausgestattet ist, daß es aber auch familiäre und persönliche Ausprägungen gibt, die gut erklären, warum die Menschen allgemein und die Angehörigen einer Familie im besonderen oft so verschieden mit ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen umgehen.

Neben dem Erbe beeinflußt auch die Umwelt das Zwangsschicksal eines Menschen. Eine nicht zu verkennende Rolle spielt dabei die soziale Umwelt, in die ein Kind hineingeboren wird. Gemeint ist dabei der berufliche oder materielle Status, den eine Familie in einer Gesellschaft genießt. Das gleiche gilt für die mentale Umwelt, d. h. die politische und religiöse Weltanschauung, den Bildungsgrad und dieBildungsmöglichkeiten, die eine Familie ihren Kindern vermittelt.

1.1.2 Das Freiheitsschicksal

Auch wenn die genannten Faktoren des Zwangsschicksals nie ganz zu überwinden sind, hinderte das Szondi nicht, eine Psychologie der menschlichen Freiheit zu entwickeln. Das Wesen des Seelischen bestand für ihn im Drang des Menschen nach Freiheit (1963, 33). Dieser Freiheitsdrang hat in den, dem Ich zugeschriebenen Funktionen seine Wirkungs- und Entfaltungsmöglichkeiten. Dank der ichbedingten Fähigkeiten zu entscheiden und zu wählen, ist der Mensch weder Sklave seiner Natur noch Spielball seiner Umwelt. Auch wenn er den Gebrauch seiner Möglichkeiten nie vollumfänglich wahrnehmen kann, ist er doch ein Wesen des Sowohl-als-Auch hinsichtlich Freiheit und Zwang.

Damit Freiheit immer mehr verwirklicht werden kann, bedarf es der Beziehung zur obersten Instanz, zum Geist. "Die Welt des Geistes ist übernatürlich und überpersönlich" (1956, 517). An anderer Stelle beruft sich Szondi auf die Bibel und sagt: "Gott ist Geist" (1956, 523). Hier liegt die Bedeutung des Religiösen innerhalb der Schicksalspsychologie, weil die Verwirklichung menschlicher Freiheit als abhängiges, von der Anerkennung des Geistes als ein dem Menschen übergeordnetes, sinngebendes Seinsprinzip betrachtet wird.

1.2 Dialektik und Wandlung

Drang nach Freiheit und Zwang sind die Faktoren, die das Schicksal des Menschen bedingen. Psychische Polaritäten und deren Wandlungsmöglichkeiten bilden die schicksalsformende Dynamik. Szondi nimmt diesen Gedanken in seinem Bild von der "Drehbühne des Lebens" in verschiedenen Texten auf: "Der Schicksalbegriff ist dialektisch, d. h. zwischen Widersprüchen und Gegensätzen sich stets bewegend und nicht unbeweglich stationierend verfaßt. Die sechs schicksalsbedingenden und -gestaltenden Lebensfunktionen bewegen sich normaliter immerfort miteinander und gegeneinander. Damit wandelt sich im Laufe der Zeit das Schicksal in seiner Erscheinungsform. Wie im Theater die Szenen und das Spiel auf einer Drehbühne, so etwa dreht sich das Schicksal auf der Bühne des Einzellebens …Erstarrt das Schicksal in einer bestimmten Stellung dieser Drehbühne des Lebens, so wird es zum Zwangsschicksal … Ist hingegen das Ich mit Hilfe des Geistes fähig, den versteinernden Wirkungen der zwangsschicksalbestimmenden Funktionen kräftig entgegenzutreten und die Drehbühne weiter in Bewegung zu setzen, so kann - unter günstigen Umständen - ein freies Wahlschicksal im Werden sein" (1968, 22-23).

1.3 Ganzheitlichkeit

Mit dem Prinzip der Dialektik ist nicht nur die Idee von Dynamik und Wandlung in das Menschenbild eingeführt. Vielmehr verbindet sich damit auch der Gedanke von umfaßender Einheit oder Ganzheitlichkeit. Bereits für die Verfaßer des altchinesischen „Buches der Wandlungen" und für die taoistischen Weisen oder später den Philosophen Heraklit (500 v. Chr.) bestand die Wirklichkeit in der Einheit der Gegensätze. Sein hieß für sie gegensätzlich sein.

Daran dachte wohl auch Jaspers (1973, 283), wenn er meinte: „Das Seelenleben und seine Inhalte sind zerspalten in Gegensätze. Durch Gegensätze aber hängt alles wieder zusammen." Ciompi (1982,119) spricht von der „Ubiquität polarer Gegensatzstruktur". Szondi faßt diesen Gedanken so:

„Seelische Dialektik nennen wir im allgemeinen diejenige Zusammenwirkung entgegengesetzter psychischer Funktionen, welche die Einheit der Seele bedingen und erhalten" (1956, 259).

Mit der Ganzheitlichkeit ist auch das Umfassende gegeben. Die Schicksalspsychologie nähert sich dem Menschen in seiner Ganzheit auf drei existentiellen Ebenen:
Bio-psychologisch (Erbe, Trieb- und Affektnatur)


Sozial-psychologisch (soziale und mentale Umwelt) und Ich-psychologisch (Ich und Geist).

In der Sprache des Dichters klingt das einfacher und verständlicher: „Was Du bist", sagt A. Huxley, „hängt von drei Faktoren ab: Was Du geerbt hast, was Deine Umgebung aus Dir machte und was Du in freier Wahl aus Deiner Umgebung und Deinem Erbe gemacht hast" (zit. nach Szondi, 1967, 18).

Alle Wissenschaften, die sich mit dem Menschen befassen, lassen sich wenigstens einer dieser drei Ebenen zuordnen und sind somit auch für den Schicksalspsychologen von Bedeutung; beispielsweise für den biologischen Bereich: Medizin, Genetik, Psychobiologie, Psychosomatik, Ethologie; für den sozialen Bereich: Gesellschaftstheorien zu Makro- und Mikrostrukturen, beispielsweise über Familie und Ehe; und schließlich philosophische und psychologische Lehren vom Ich des Menschen, sowie Aspekte der Theologie und Religion.

Ganzheitlich zu nennen ist ebenfalls die integrierende Haltung Szondis gegenüber anderen Psychologien. OBS: So betrachtete er seine Schicksalsanalyse als eine Ergänzung zu den als grundlegend erachteten Theorien der Psychoanalyse (S. Freud) oder der komplexen Psychologie (C. G. Jung). Er plädiert für eine „geeinte Tiefenpsychologie", ohne die sich ergänzenden Unterschiede zu verwischen (1956, 18 u. 532).

1.4 Konzepte des Zwangsschicksals

Worin nun die schicksalspsychologische Ergänzung besteht, ersieht man aus den Konzepten des Zwangs- und Freiheitsschicksals.

1.4.1 Das familiäre Unbewußte

Ahnenansprüche als Inhalt des familiären Unbewußten
Das von Freud entdeckte persönliche Unbewußte, das sich hauptsächlich in Symptomen äußert, und das von Jung erforschte kollektive Unbewußte, dessen Sprache besonders die der Symbole ist, hat nun Szondi um das famliiäre Unbewußte ergänzt. Dabei dient das familiäre Unbewußte als Metapher für den Ort, an dem sozusagen das familiäre Erbe eines Menschen aufzufinden ist. Szondi spricht von Ahnenansprüchen:

„Unter Ahnenanspruch versteht die Schicksalsanalyse das Endziel einer Ahnenfigur, im Leben eines Abkömmlings in der gleichen Existenzform vollständig so zurückzukehren, wie sie in der Familiengeschichte einmal oder mehrmals wirksam war" (1963, 57)

.

Das recht mythologisch klingende Wort "Ahne" kann man in diesem Verständnis auch rein psychologisch fassen und von spezifisch familiär bedingten Bedürfnissen innerhalb der Triebdialektik (Szondi 1952, 28) sprechen. Auch wenn eine Ahnenfigur sich in einem bestimmten Ahnenschicksal manifestieren möchte, hat der Träger dieses Ahnenanspruchs trotzdem verschiedene Existenzmöglichkeiten. Die Schicksalspsychologie wendet sich darum gegen jeden Fatalismus, weil der Mensch in der Lage ist, aus den vorgegebenen Möglichkeiten zu wählen. So kann sich ein Ahne in einer Zwangswahl als eine Krankheit äußern. Wenn ein Mensch jedoch diese Gefahr kennt, so kann er bewußt - oft tut er das auch unbewußt - z. B. eine berufliche Tätigkeit wählen, in der er dieses Bedürfnis sozialisiert, das ihn andernfalls krank machen kann.

  1. Die Wahl als Wirkungsweise des familären Unbewußten
    Die Wahl ist die eigentliche Sprache des familiären Unbewußten, oder in einem Schlagwort ausgedrückt: „Wahl macht Schicksal" (Szondi 1968,41). Hier hat die Schicksalspsychologie eine Gesetzmäßigkeit entwickelt, die sie Genotropismus nennt. Sie versteht darunter "die wechselseitige Anziehung , . . erbverwandter Personen" (Szondi 1963, 21 1). Der Genotropismus oder die mit dem familiären Unbewußten erklärbaren Wahlen der Menschen sind hauptsächlich in fünf verschiedenen Lebensbereichen beobachtbar:

in der Partnerwahl,

in der Freundschaftswahl,

in der Berufs- und Hobbywahl,

in der Krankheitswahl und

in der Todeswahl, z. B. bei Selbstmord.

1.4.2 Das Triebsystem

Die wesentlichen Elemente der Struktur des Triebsystems sind die Bedürfnisse und nicht - wie man meinen könnte - die Triebe. Darum ist die im Moment gängige Diskussion um den Triebbegriff für die Bedeutung dieses Konzepts zweitrangig.

Die Bedürfnisse - es gibt deren acht - versteht Szondi als Schicksalsradikale, die im Sinne der phänomenologischen Reduktion Husserls gewonnen wurden; alle nur denkbaren Einzelvorgänge des Schicksals werden auf diese Wurzelfaktoren zurückgeführt. Das Ergebnis beschreibt Szondi folgendermaßen:


„So gelangten wir zu wichtigen Wesenszusammenhängen in den Erscheinungen dieser Schicksalsradikale, welche - befreit von den quasi-gegebenen Einzelheiten - das Wesen des Schicksals und seine Radikale kategorial zu erfassen ermöglichen" (1954, 33).

Szondi hat je zwei dieser acht Wurzelfaktoren oder Bedürfnisse zu einem Trieb zusammengefaßt. Jedes Bedürfnis selbst - entsprechend dem Prinzip der Dialektik - ist in zwei polare Strebungen aufgeteilt. Somit besteht die Struktur dieses Systerns aus vier Trieben, acht Bedürfnissen und sechzehn Strebungen. Und zwar herrscht nicht nur in und zwischen den einzelnen Bedürfnissen ein dialektisches Spannungsverhältnis, sondern wir finden es auch in und zwischen den vier Trieben.

Der Inhalt des Triebsystems umfaßt vier Bereiche:

Der Sexualtrieb besteht im Zusammenwirken der Bedürfnisse nach sinnlicher und sublimierter Zärtlichkeit sowie nach Aktivität und Hingabe.

Der Überraschungstrieb wird von zwei Bedürfnissen gebildet, die Reaktionen wie Impulsivität, Wut, Angst und Gerechtigkeitssinn sowie Scham und Geltungsdrang zum Ausdruck bringen.

Der Ichtrieb wird durch die beiden Bedürfnisse nach Sein und Haben bestimmt. Die Strebungen dieser beiden Bedürfnisse heißen Projektion (auch Partizipation), Inflation, Introjektion und Negation.

Der Kontakttrieb schließlich umfaßt die Bedürfnisse nach Bindung und

Abtrennung sowie nach Verändern oder Verbleiben.

1.5 Konzepte des Freiheitsschicksals

1.5.1 Das Pontifex-lch

Neben dem Trieb-lch mit seinen vier Funktionen hat Szondi 1972, 168;1963,89) noch ein „metaphysisches" bzw. ein „höheres Ich" in seine Ich-Psychologie eingeführt, das er „Pontifex oppositorum“ nannte, weil die ihm zugeschriebenen Funktionen den Menschen befähigen, Gegensätze zu überbrücken und zu integrieren. Dieses Pontifex-lch bezieht seine Kraft aus dem biologischen Bereich des Menschen und wirkt mit dem Trieb-Ich zusammen, dem es aber übergeordnet ist. Im Pontifex-lch liegt das Potential der Freiheit des Menschen, durch das er die mit dem Zwangsschicksal gegebenen Einseitigkeiten überwinden kann.

1.5.2 Menschwerdung

im Zusammenhang mit der Dialektik wurde von der Wandlungsfähigkeit menschlicher Existenz gesprochen. Durch das Wirken der Funktionen des Pontifex-lchs erhält diese Beweglichkeit des Menschen eine auf Freiheit hin ausgerichtete Finalität und Sinnhaftigkeit.

Wenn dieser Prozess zu immer größerer Freiheit im Einzelnen oder in einer Gemeinschaft voranschreitet, dann vollzieht sich Menschwerdung. Wie in der östlichen Philosophie ist auch in der Schicksalspsychologie der Weg bereits das Ziel. Wenn wir nun den viel zitierten Satz „Wahl macht Schicksal" auf unser Thema der Freiheit hin abwandeln, dann können wir mit Szondi (1963, 98) sagen:

„Freiheitsschicksal heißt die Wahl der Menschwerdung"

1.6 Die Mehrgenerationen-Perspektive der Schicksalsanalyse

Das Familienerbe beeinflußt vielfach schicksalhaft scheinbar so individuelle Ereignisse wie Partnerwahl, Berufswahl, Erkrankung und Sterben. In der Mehrgenerationen-

Perspektive werden Verstricktheiten, Beziehungskonstellationen und Ressourcen er

kennbar, die sich durch Generationen hinziehen.

Das familiäre Unbewußte bildet ein unsichtbares Band, das alle Familienmitglieder vertikal, über Generationen hinweg umschließt, gleichsam in einem unbewußten Schicksalsplan erfaßt. Desgleichen verbindet es horizontal die lebenden Mitglieder einer Familie. Dadurch entsteht für die Familienmitglieder ein affektiv hoch besetztes Netzwerk. So betrachtet die Schicksalsanalyse den Menschen nie als isoliertes Individuum, sondern eingebettet in den sichtbaren und unsichtbaren, das ganze Leben begleitenden Kontext von Herkunftsfamilie und Anverwandtschaft.

Wir sind Träger und Teilhaber an einer familiären Koevolution (Willi 1985) und existentiell Verwalter einer familiären Erbschaft, für deren Erhaltung, Entfaltung und Weitergabe wir verantwortlich sind. Die Übernahme dieser Verantwortung vermittelt Lebenssinn und das Bewußtsein von familiärer Identität und Solidarität. Werden jedoch die Erwartungen der Vorfahren unbewußt übernommen und in blindem Zwang ausgelebt, behindern, ja unterbinden sie allzuleicht Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung des einzelnen Familienmitgliedes. Damit verfällt das Familien-mitglied einem familiären Zwangsschicksal, das mit dem Erleben einhergeht, nicht das eigene Leben zu führen, sondern blind und ungefragt Lebensmuster von Vorfahren wiederholen zu müssen.

Ein solcher Mensch soll generationenübergreifende unbewußte Loyalitätsverpflichtungen, „Verdienst- und Schuldkonti" (Boszormenyi-Nagy 1981) während seines Lebens einlösen und begleichen. Solcherart Delegierter und Beauftragter zu sein, heißt im einschränkenden Sinne von Zwangsschicksal, von den Eltern, Großeltern und weiteren Vorfahren verpflichtende Aufträge für das Leben zu erhalten, die unsere Begabungen und individuellen Möglichkeiten überfordern oder die mit Inhalten von anderen familiären Aufträgen unvereinbar sind und deshalb Loyalitätskonflikte erzeugen. Als Delegierte sollen Menschen etwas leben, was den Auftraggebern in deren Leben noch nicht gelungen ist. In diesem Fall spricht der Schicksalstherapeut von Zwangsschicksal oder vom familiären Wiederholungszwang.

Der Schicksalstherapeut weiß natürlich auch, daß die Übernahme von Aufträgen und Verpflichtungen der Vorfahren im günstigen Fall dem Leben des einzelnen Familienmitgliedes Sinn, Stabilität und das Gefühl der Identität und Kontinuität verleiht:( „familiäre Identifizierung" nach Szondi 1956, 214). Dies trifft dann zu, wenn die Aufträge bewußt und verantwortet, den eigenen Möglichkeiten gemäß, übernommen werden. Wenn dem so ist, spricht der Schicksalstherapeut von Freiheits- oder Wahlschicksal.

Unter dem Gesichtspunkt der Mehrgenerationen-Perspektive begreift die Schicksalspsychologie den Menschen aus seinen Bedürfnissen und den sie begleitenden Affekten und Emotionen in ihrer genetischen und familienspezifischen Gestaltung und transgenerationalen Überlieferung, die zusammen das Trieb- und Affekt-Schicksal bilden. Der Niederschlag der generationenübergreifenden sozio-ökonomischen Formung, Bearbeitung und Beeinflussung des Menschen zeigt sich im sozialen Schicksal.

Das familiäre, über Generationen weitergereichte Ideenerbe mit seinen Werten, Überzeugungen, Idealen, Lebensregeln, Weltanschauungen und Traditionen bildet den Ausgangspunkt für das mentale Schicksal.

Die dem Menschen eigene, über Generationen geförderte oder behinderte Möglichkeit, an einer spirituellen und transpersonalen Seinsdimension zu partizipieren, bildet die Grundlage des Glaubens- oder Geistschicksals.

Der Mensch, der durch die ichhafte Verbindung zum Geist zu seinem familiären
Erb-, Trieb-, sozialen und mentalen Schicksal bewußt Stellung bezieht, lebt ein Ich-, Wahl- oder Freiheitsschicksal.

2. Die Krankheitslehre der Schicksalsanalyse

2.1 Gesunde und kranke Schicksalsmöglichkeiten

Sah Freud hauptsächlich in verdrängten Triebbedürfnissen, also in Inhalten des persönlichen Unbewußten, die Ursachen seelischen Erkrankens, so verwies Jung auf die „Sinnlosigkeit und Gegenstandslosigkeit des Lebens" als die „allgemeine Neurose unserer Zeit". Adler wiederum betrachtete die Krankheit als einen Widerstand gegen die Forderungen der Sozialgemeinschaft. Szondi versucht nicht, diese Auffassungen zu widerlegen, sondern zu ergänzen. Dabei möchte er die Möglichkeit seelischen Erkrankens nicht einseitig, sondern mit dem „Ganzheitsschicksal", d. h. mit allen das Schicksal bedingenden Faktoren, erklären.Das Wesen einer Krankheitslehre kommt im jeweiligen Verständnis von Krankheit und Gesundheit zum Ausdruck.

Die Schicksalsanalyse geht von der Annahme aus, daß jede seelische Krankheit in einer Beziehung zu einem gesunden, d. h. sozialisierten und humanisierten Schicksal steht. Aufbauend auf den vier alten Erbkreisen der Psychiatriegeschichte (Sexualerkrankungen, paroxysmale Leiden, Schizothymie und manisch-depressives Kranksein), spricht Szondi neu von vier Schicksalskreisen mit den ihnen zugeordneten gesunden und kranken Schicksalsformen. Die Schicksalsanalyse begreift seelische Krankheiten in erster Linie als „Schicksalskrankheiten" mit triebdynamischen Gefahren, Abwehrformen und spezifischen, von Symptomen gebildeten „Notausgängen".

Nach Szondi bestimmt die Art und Weise, wie Menschen mit ihren seelischen Polaritäten umgehen bzw. von ihnen dominiert werden, den Schicksalslauf des Einzelnen und der Gemeinschaft. Gesund ist ein Mensch, der seine seelischen Polaritäten in ihrem dynamischen und dialektischen Zueinander in einem gewissen Gleichgewicht zu halten, auszugleichen und sie in eine überbrückende Ganzheit zu integrieren vermag. Krank wird ein Mensch, der Polaritäten abspalten, dualisieren und als unversöhnliche Gegensätze erleben und erleiden muß. Der Heilweg führt über die Kontaktnahme mit den abgespaltenen Persönlichkeitsanteilen und die Integration des Abgespaltenen in eine seelische Ganzheit.

2.2 Verteilung der Seinsmacht

Während der gesunde Mensch durch die freie und flexible Verfügbarkeit seiner Ichfunktionen charakterisiert ist, kennzeichnet den kranken Menschen ihr zeitweiliger oder chronifizierter Ausfall. Auf dem spezifischen Ausfall einer oder mehrerer Ichfunktionen in der Dynamik der sog. „Ichumlaufbahn" begründet Szondi eine differenzierte Systematik geschädigter Lebensschicksale. Deshalb konzentriert sich schicksalspsychologische Diagnostik auf vorhandene Blockierungen und Ausfälle von Ichfunktionen und Funktionen in anderen Lebensbereichen.

Die einseitige, starre, unbewegliche, das Leben behindernde Ausrichtung des Ichs auf einzelne oder nur eine einzige Funktion hat Szondi auch als krankmachende Verteilung der "Seinsmacht", d. h. die Verteilung des Interesses und der Zuwendung auf das Ich, auf Ideen und Objekte begriffen. Bei einer ausgewogenen Verteilung der Seinsmacht finden Erbe und Verbundenheit mit den Vorfahren, die triebhafte und affektive Seite des Menschen, die soziale Umwelt und die Mitwelt ein entwicklungsgemäßes und der jeweiligen Lebensphase zukommendes Interesse.

Überträgt der Mensch sein Interesse einseitig auf das Erbe und die familiäre Vergangenheit, gerät er allzuleicht unter die Herrschaft eines Zwangsschicksals, wie es sich oft in Formen von Rassismus, Nationalismus und Verklärungen der Ahnenvergangenheit niederschlägt.

Empfängt das Triebleben des Menschen alle Zuwendung, so lebt der Mensch das Zwangsschicksal der Haltlosigkeit und eines ungesteuerten triebhaften Charakters.

Erhält die Umwelt bei der Verteilung der Seinskraft den größten Anteil, so wird der Mensch eher dem Zwangsschicksal einer gesellschaftlichen Charakterneurose (nach Erich Fromm) verfallen.

Überläßt der Mensch seiner Vernunft und seinem Verstand die Obermacht, verkümmert er zum kalten Rationalisten.

Gewinnt die Welt der Ideen und des Geistes alle Seinsmacht, verliert der Mensch den Boden unter seinen Füßen.

Versammelt das Ich alle Seinsmacht auf sich, so bläht sich der Mensch zu einer Pseudogöttlichkeit auf.

3. Die Schicksalstherapie

3.1 Schicksalsanalytische Diagnostik

Die schicksalsanalytische Diagnostik dient dem Erkennen von persönlichen, familiären und kollektiven Lebensmustern und Schicksalsplänen, Schutz- und Abwehrhaltungen, Charakterbildungen, Krankheiten und Leidensformen, familiären Traditionen der Konfliktverarbeitung und der Gewinnung von Wohlbefinden sowie Sublimirungs-, Sozialisierungs- und Humanisierungsmöglichkeiten.

3.1.1 Anamnese, Lebenslauf

Über die gängige klinische Anamnesenerhebung hinaus gilt das Augenmerk der „genealogischen Familienanamnese" nach Szondi (1963, 110) der Familiengeschichte, dem familiären Lebensstil, den konkreten Lebensverhältnissen, den Berufstraditionen, Begabungen, Interessen, körperlichen und seelischen Erkrankungen, den Lebensaltern, Todesursachen, Verlusten durch Tod, der Invalidität, Erbstreitigkeiten, Machtverhältnissen in der Familie, Wanderbewegungen und Aufenthaltsorten der Familienmitglieder-, Trennungen, Scheidungen, Adoptionen, Religionswechsel.

Zur Einschätzung der familiären Ressourcen interessiert sich der Schicksalsdiagnostiker dafür, wie die Phasen des Lebenszyklus einer Familie und ihre spezifischen Anforderungen bewältigt worden sind.

Aus dem schriftlichen, ausführlichen Lebenslauf versucht er erste Hinweise zu gewinnen über die in einer Familie wirksamen und das Schicksal des einzelnen Familienmitgliedes beeinflussenden Lebensregeln, Wertvorstellungen, Wünsche, Verwünschungen, Rollenzuweisungen und -erwartungen, Verstrickungen, Vermächtnisse, Koalitionen, Unversöhnlichkeiten, Familiengeheimnisse, -mythen und -selbstbilder.

3.1.2 Stammbaum

Die genealogischen Daten der Familienanamnese werden in einem Stammbaum (Genogramm) übersichtlich geordnet, womöglich mindestens bis zur dritten Generation, mit Einbezug der Daten über die Ehepartner und Freunde, d. h. die Wahlverwandten der Familienmitglieder. Wird der Stammbaum von den Betroffenen selbst zusammengestellt und gezeichnet, gewinnt die visuelle Struktur und persönliche Gestaltung des Stammbaumes diagnostischen Wert.

Je nach Häufungen und Art bestimmter Leidens- und Erkrankungsformen entnimmt der Schicksalsdiagnostiker dem Stammbaum Hinweise für Indikation und Prognose.






3.1.3 Szondi-Test: Erzählfolie und diagnostisches Instrument

Der Szondi-Test ist ein Bildwahlverfahren und zählt zu den projektiven Tests. Er umfaßt sechs Bilderserien zu acht Portraits von triebkranken Menschen, also insgesamt 48 Bilder. Die Portraits gelten als Repräsentanten der acht Grundbedürfnisse des Triebsystems. Aus jeder Serie werden die zwei sympathischsten und die zwei unsympathischsten Bilder gewählt. Die Bilderwahl erfolgt nach dem Muster der Identifizierung und Gegenidentifizierung.

Entscheidend für das Funktionieren des Tests als Erzählfolie (Bürgi 1985) ist die kunstvolle Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit der vielfältigen Sprachmuster, welche von Szondi für die inhaltlich unspezifischen funktionalen Testaussagen geschaffen worden sind. Die Erzählfolie führt dazu, daß die Ratsuchenden bereits beim Anhören oder Lesen die allgemein gehaltene, jedoch spezifisch klingende Testauswertung - ohne sich dessen bewußt zu sein - in ihre unverwechselbare, persönliche Lebens- und Leidensgeschichte assoziierend übersetzen. Bei gelungenem Rapport zwischen Schicksalsdiagnostiker und Ratsuchenden bringt die Erzählfolie einen kognitiven und emotionalen Prozeß der Selbstbefragung und Selbstreflexion in Gang, der in einem weiteren Schritt in eine Form der von Szondi (1966) erarbeiteten "Kurztherapie auf Grund des Szondi-Testes" münden kann. Dabei bringt das dem Test zugrundeliegende, nach vier Lebensbereichen ("Vektoren") ausgerichtete Triebsystem Ordnung und Perspektive in das Erzählen und Formulieren der Lebens- und Leidensgeschichte.

Der Test als diagnostisches Instrument (Szondi 1947, 1972) geht vom schicksalspsychologischen Triebsystem aus, das die unbewußte Trieb- und Ichdynamik in ihrem steten dialektisch-polaren Wandel begreift und das Wesen des gesunden und kranken Lebens in dessen Prozesshaftigkeit erblickt. So zielt die schicksalspsychologische Diagnostik nicht auf die Beschreibung von klinischen Zustandsbildern und auf statische Diagnosen, sondern auf die funktionale und triebdynamische Erfassung von Krankheitsprozessen und -verläufen.

OBS: Der Szondi-Test eignet sich ganz besonders zur Übersetzung von psychodynamischen Abläufen und Konstellationen in Syndrome. Damit hat der Schicksalsdiagnostiker die Möglichkeit, mit Hilfe des Szondi-Testes einzelne Phasen eines Krankheitsprozesses exakter zu bestimmen und syndromatisch auseinanderzuhalten.

Mit der Annahme des Schicksalspsychologen, daß jede seelische Erkrankung in einer engen Beziehung zu einer gesunden, d. h. sozialen und entwicklungsfördernden Schicksals- und Existenzformen steht, deckt der Szondi-Test nicht bloß triebdynamische Gefahren auf, sondern ebenso vorhandene, evtl. in der Latenz verbliebene Sozialisierungs- und Humanisierungsmöglichkeiten. Zur Einschätzung der durch den Test sichtbar gemachten Existenzmöglichkeiten und derer Manifestation, wurden differenzierte Methoden sog. „Komplementmethoden" entwickelt. Damit sollen vergangene, gegenwärtige und künftige Schicksals- und Existenzmöglichkeiten erkannt, auseinandergehalten und in ihrem Zusammenwirken und im Verhältnis zueinander beurteilt werden können.

Der Szondi-Test stellt zugleich ein Instrument dar, mit dessen Hilfe Schicksalsanalytiker vor Beginn einer Psychotherapie abzuschätzen versuchen, wie weit eine analytische Therapie indiziert ist und welche Prognose ihr zukommt.

Szondi selbst sah das Funktionieren seines Testes allein in seiner genetisch formulierten Objektwahltheorie begründet.

Veränderungen im Verständnis der psychobiologischen Grundannahmen der Schicksalspsychologie legen weitere, noch auszuarbeitende Begründungszusammenhänge für die Wirkungsweisen des Szondi-Tests nahe. Rufen wir uns noch einmal in Erinnerung: es gehört zu den von Szondi postulierten Voraussetzungen für die Wirksamkeit seines Tests, daß die Portraitfotos von psychiatrisch kranken Individuen eine bestimmte Triebenergie mit einem besonders starken Aufforderungscharakter ausstrahlen.

Das führt zur Frage, welcher Art die Resonanz ist, mit der die Testperson reagiert, wenn sie ein Foto als sympathisch oder unsympathisch einstuft. Vergleichende Überlegungen drängen sich auf, wenn man sich vergegenwärtigt, daß Szondis Triebmodell auf Polaritäten und den Energiefeldern zwischen den Polen beruht. Szondi hat sich mit physikalisch-energetischen Fragen im Zusammenhang mit seinem Triebsystem auseinandergesetzt (vgl. Knoll 1962). Er impliziert eine psychische Feldenergie, deren Dynamik und Spannungsverhältnis letztlich die psychische Individualität, aber auch die Wandel- und Formbarkeit des Menschen schaffen. So kann beispielsweise die Blockierung von Feldenergien zu den vielfältigsten Erscheinungsformen psychischer Störungen führen; ein Tatbestand, den Szondi in zahlreichen Beispielen und Testreihen aus der Praxis sehr drastisch zu illustrieren vermochte.

Plausibel erscheint in diesem Zusammenhang Modell und Theorie des „morphogenetischen Feldes" des Biologen Rupert Sheldrake (Sheldrake 1983,94; Bemer 1989). Er postuliert, daß diese formgebenden, steuernden Felder bzw. Feldenergien signifikant für die Gesamtheit der Entwicklungsphasen anorganischen und organischen Stoffe sind und daß sich die Wirksamkeit dieser morphogenetischen Felder auf Verhaltensmuster, Instinkte und Lernprozesse ausdehnen Iäßt. Die Wirkung der Felder, d. h. die Überspielung der der Feldenergie immanenten Informationen auf Menschen, bezeichnet Sheldrake als „morphische Resonanz". Resonanz daher, weil Feldinformation, die auf gleiche oder ähnliche Informationen beim Menschen stoßen, verstärkend wirken. So gibt uns das Portraitfoto einen Hinweis, wo diese morphische Resonanz in „höherer Dichte" wahrgenommen und ausgestrahlt wird: im Gesichtsbereich und speziell in der Augenpartie, - Zusammenhänge, die bereits griechischen Physiognomikem bekannt waren und in der Säuglingsforschung (Spitz 1967) wieder entdeckt wurden. Der Szondi Test könnte folglich die Ausstrahlung wesentlich über das Medium der Augen „messen", indem die Testperson beim Betrachten der Bilder unter den Einfluß dieser Resonanz gerät und darauf abwehrend oder akzeptierend reagiert (Bemer 1989).

Die Thesen Sheldrakes sind hier nur ein Beispiel dafür, daß sich in der aktuellen naturwissenschaftlichen Forschung verblüffende Ansätze finden, die zu schmale und teilweise überholte theoretische Grundlage eines in der Praxis durchaus funktionierenden Tests neu zu formulieren und zugleich Szondis Polaritäten-, Feld- und Energiemodell zu vertiefen.

3.1.4 Berufswahltest nach Achtnich

Einen wichtigen Anwendungbsereich der Schicksalspsychologie hat Martin Achtnich (1979) mit seinem Berufbsildertest (BBT) erschlossen. Wie beim Szondi-Test handelt es sich beim BBT um einen Bildwahltest. Die Testphotos zeigen Berufsleute bei ihrer Arbeit. Die Photos werden gewählt, je nachdem die Tätigkeiten gefallen oder nicht gefallen oder den Betrachter gleichgültig lassen. Achtnich hat bei der Konstruktion seines Tests die von Szondi beschriebenen acht Grundbedürfnisse ("Wurzel-Faktoren", „Radikale") des Menschen unter veränderten Bezeichnungen als Einteilungsprinzip übemommen und berufspsychologisch als Neigungsradikale aufgefaßt, die sich wechselseitig verkoppeln und vermischen.

Der Berufbsildertest basiert wesentlich auf dem von Szondi aufgezeigten Zusammenhang zwischen bestimmten Triebbedürfnissen und Berufswahl. Durch die Bildwahlen wird eine ursprüngliche Neigungsstruktur sichtbar. Der Berufsbildertest ist ein Instrument der Berufberatung Jugendlicher und der Laufbahnberatung Erwachsener.

3.2 Schicksalsanalytische Therapie

Szondi war sich bewußt, daß ein gewichtiger Teil des Zwangsschicksals im persönlichen biographischen Bereich wurzelt, dem das persönliche Unbewußte nach Freud zugehört. Es ist deshalb für die Schicksalsanalyse selbstverständlich, psychoanalytische Methoden für die Bearbeitung jenes Anteils des Zwangsschicksals einzusetzen, der im persönlichen Unbewußten gründet. In ähnlicher Weise anerkennt die Schicksalsanalyse Formen des Zwangsschicksals, die mit dem kollektiven Unbewußten nach C. G. Jung in Verbindung stehen.

3.2.1 Indikation

Indiziert erscheint eine Schicksalstherapie in engerem Sinne bei Hilfesuchenden, die vom Erlebnis und von der Einsicht betroffen sind, nicht das eigene Leben zu führen, sondem sich gezwungen fühlen, Lebensmuster von Vorfahren wiederholen zu müssen. Wieder andere präsentieren Leidensformen, die sie aus der Konfliktgeschichte des persönlichen Lebens herleiten. Wenn aus Anamnese und Stammbaum eine generationenübergreifende Häufung gleicher oder triebdynamisch verwandter Leidens- oder Sozialisierungsforinen zu beobachten ist, dann wird der Berater oder die Psychotherapeutin in die Beratung und Therapie schicksalsanalytische Überlegungen einfließen lassen. Weiter können Trauminhalte, die der Schicksalspsychologe als „Ahnentraum" erkemt, einen wichtigen Hinweis geben, im Therapieprozess schicksalspsychologische Aspekte zu berücksichtigen.

3.3 Zielsetzung

In einer Schicksalstherapie geht es um die Befreiung des Menschen vom Zwangsschicksal und um die Überführung des Zwangsschicksals in ein Freiheits-, Ich- und Wahlschicksal. In einer Schicksalstherapie im engeren Sinne gilt es, sich als am familiären Zwangsschicksal Leidende und Leidender den folgenden Fragen zu stellen:

  • Was ist mein familiäres Zwangsschicksal?
  • Was will ich vom Familienerbe und von den Anliegen meiner Familie weiterführen? ( „Familiäre Identifizierung" nach Szondi)
  • Was will ich auf keinen Fall weiterreichen? ( „Familiäre Negation")
  • Was will ich von den Einseitigkeiten und Übertreibungen in meiner Familie modifizieren
  • Wie will ich im Kontext des familiären Erbes mein individuelles Leben gestalten? (Wahlschicksal)

Da der an seinem Schicksal erkrankte Mensch sich stark in seinen Wahlmög-lichkeiten einschränkt, ermutigt die Schicksalstherapie zu neuen Sichtweisen, Bewertungen und Sozialisierungen.

Schicksalstherapie versucht u. a. die familienbezogene Individuation der Rat- und Hilfesuchenden zu fördem. Dies erfordert eine Versöhnung über die Generationen hinweg.

3.4 Schicksalstherapie im engeren Sinne: Methoden und Techniken
Es wäre zu einfach, Schicksalstherapie mit Methoden und Techniken fest und abschließend zu umreißen, denn zur Erreichung der Zielsetzungen stehen

dem Schicksalstherapeuten eine Vielfalt von Techniken und Methoden zur Verfügung. Zu verschieden sind die von Szondi selbst in kreativer Weise, oft spontan in Therapiestunden entwickelten Therapietechniken, als daß man sie auf einen Nenner bringen könnte. Manche von ihm innovativ eingesetzten Techniken entstammen aus dem voranalytischen Arbeitsfeld Szondis, der Heilpädagogik und nervenärztlichen Praxis und werden heute von verschiedenen therapeutischen Richtungen praktiziert.

Neben klassisch psychoanalytischen Settings gebrauchte Szondi (1963) zur Erreichung einer größeren Wahlfreiheit eine Fülle von nichtanalytischen, nicht einmal im strikten Sinne tiefenpsychologischen Methoden, für die er verschiedene Begriffe verwendete, wie „psychagogische Kurztherapie", „schicksalsanalytische Psychagogik" und „Psychosynthese". Nach Szondi meinen diese Bezeichnungen: Schicksalsanalytische Therapien, die eine „legitime Abänderung" der klassisch psychoanalytischen Technik darstellen. Solche Abänderungen gehen außerordentlich weit! Erwähnt seien die ausgedehnten Dialoge, die Szondi während Schicksalstherapien in psychagogischer Absicht führte, und die therapeutischen Rituale im Rahmen von Partizipationstherapien zur Förderung von Spiegelübertragungen bei Behandlungen von Grundstörungen im Sinne von Balint.

Bei krasser Mißachtung von Generationengrenzen in hochverstrickten Familien intervenierte Szondi z. B. strategisch-direktiv mit seinen „Desimaginationsprogrammen" (Szondi 1963,498). Eine weitere direktive Technik soll bei akuten Verlusterlebnissen „die Introjektion des verlorenen Objektes" - dies auch die Bezeichnung der einschlägigen Technik - beschleunigen oder erleichtern (Szondi 1963, 499).

Eine zentrale Rolle spielen auch die Arbeitstherapien, in deren Rahmen der Psychotherapeut die Klienten überzeugt, belehrt, berät und verlangte Schreib- und Lesearbeiten diskutiert (Szondi 1963).

Innovativ waren die von Szondi in seine Schicksalstherapie eingeführten heilpädagogischen Methoden, die er u. a. als „Umdrehung", „Umformung", „Umwandlung", „Ablenkung", „Konversion" und „Sozialisierung" bezeichnete. Durch sie beabsichtigte Szondi den im schicksalstherapeutischen Konzept formulierten „lenkbaren Fatalismus" therapeutisch fruchtbar zu machen. Wenn Szondi anstrebte, daß „die Inhalte der krankhaften Wiederholungszwänge in den Berufen zu adäquaten Befriedigungen konvertiert werden können", dann bediente er sich dessen, was heute unter der Bezeichnung „Reframing" (Haley) bekannt ist.

Die einzige Therapiemethode mit der ihr eigenen Technik, die Szondi in seinem Lehrbuch detailliert beschrieb, trägt die etwas pointierte Bezeichnung „Psychoschock-Therapie". An bestimmten Stellen eines Analysenverlaufes oder einer psychagogischen Kurztherapie greift Szondi aus den Assoziationsketten, die der Patient zu Träumen oder erinnerten lebensgeschichtlichen Begebenheiten liefert, Reizwörter heraus und exponiert sie mit einer für den Klienten völlig überraschenden Plötzlichkeit und mit energischer Stimme. Dabei werden die Wörter hammerschlagartig in schneller Abfolge wiederholt (Szondi 1963; Kürsteiner 1987).

Zur Bewußtmachung von Lebensmustern des familiären Unbewußten werden heute auch andere Formen von therapeutischen Konfrontationen eingesetzt, die z. B. aus der Berührung mit der Gestalttherapie oder Bioenergetik sowie anderen Erlebnistherapien entstammen.

Szondi betrachtete Glaubensstörungen als Ichstörungen, so daß er den Anspruch erhob, eine Schicksalstherapie müsse, wenn immer möglich, in eine Analyse der Glaubensfunktion einmünden. Die unbegründete Nichteinlösung dieser Forderung erachtete er als „den größten Kunstfehler, den man in einer Analyse machen könne" (Szondi 1956a, 7 1). Durch das Ich ist für ihn ein Mensch fähig zu glauben, d. h. mit dem Geist bzw. mit Gott in Beziehung zu stehen. Der Glaube hilft dem Menschen seine eigene Macht weder zu unter- noch zu überschätzen. Anders gesagt, ein Mensch, der glaubt, ordnet sich in das kosmische Gefüge einer höheren Seinsmacht ein und findet darin seinen Lebenssinn. Die Analyse der Glaubensfunktion, ja die ganze Ich-Analyse verstand Szondi als eine bewußte Wegbegleitung, wenn er schreibt: „Durch die Erziehung des Patienten zu einer richtigen Machtverteilung, d. h. durch die Aufrichtung eines völlig neuen Wertsystems auf Grund von neuen Seins- und Habidealen wird er zur Sozialisierung und Humanisierung fähig gemacht" (Szondi 1956a, 67). Zusammen mit der sie fundierenden Pontifex-lchlehre reihte Szondi (1956a) die Glaubensfunktionsanalyse in die „religiöse Tiefenpsychologie" ein.



Nach Szondi sind die einzelnen tiefenpsychologischen Richtungen eigentliche Sprachschulen, welche sich auf die Ausdrucks- und Kommunikationsformen der menschlichen Seele spezialisiert haben. Szondi weist der Psychoanalyse die Sprache des Symptoms zu, der komplexen Psychologie nach C. G. Jung die Symbolsprache und der Schicksalsanalyse die Sprache der Wahl. So ist der Anspruch Szondis zu verstehen, wenn in der Ausbildung zum Schicksalstherapeuten die künftigen Therapeuten sowohl mit den psychoanalytischen als auch mit den Jungschen Beiträgen zur Theorie und Therapie des menschlichen Schicksals vertraut gemacht werden

3.5 Grenzen therapeutischen Handelns

"Der Mensch trägt … in sich auch Unmöglichkeiten, d. h. Existenzformen, die man nie in die Wirklichkeit umsetzen kann. Der Therapeut muß also auch noch die Weisheit besitzen, die möglichen von den unmöglichen, die realisierbaren von den nie realisierbaren Existenzformen zu trennen. Und dies ist oft schwer. „Denn was für den einen Menschen unmöglich ist, kann für den anderen möglich sein“. Mit diesen Worten verweist Szondi (1963, 55) auf die Grenzen, die der schicksalstherapeutischen Therapie gesetzt sein können, wenn sie versucht, Menschen zu einer bewußteren und freieren Wahl von Existenzmöglichkeiten hinzuführen und zu ermutigen.

Zahlreiche Einschränkungen des therapeutischen Handelns ergeben sich aus den konkreten Lebens- und gesellschaftlichen Machtverhältnissen in der Welt, in der sowohl Klienten als auch Therapeuten leben, ebenso aus irreversiblen anlagemäßigen und konstitutionellen Gegebenheiten.

Die Schicksalsanalyse betont in besonderem Maße, daß die auf Wahlverwandtschaft beruhende, wechselseitige affektive Resonanz und emotionale Verbindung ( „Partizipation") zwischen Therapeuten und Hilfesuchenden die Voraussetzung für eine erfolgreiche therapeutische Zusammenarbeit bilden. „… daß nicht die Technik heilt, sondem die zwischenmenschliche Beziehung zwischen den Analysierten und dem Therapeuten", dies zu betonen war ein Anliegen Szondis (1963, 55). Kommt die wechselseitige Partizipation nicht zum Tragen, sind dem therapeutischen Handeln grundsätzliche und enge Grenzen gesetzt.

Eine weitere Begrenzung therapeutischen Tuns ergibt sich aus der Mißachtung der sittlich-moralischen Verfassung des Menschen. Echte schicksalstherapeutische Befreiungsarbeit geht Hand in Hand mit dem Respekt vor der „sittlichen Wirklichkeit im Menschen und in der Welt" (Szondi 1963, 55).

Heilsames therapeutisches Arbeiten wird weiter eingeschränkt, wenn die Konfliktbereiche und die ungelösten Konflikte des Psychotherapeuten ständig und unkontrolliert mit den ungelösten Konflikten und problematischen Lebenbsereichen der Patienten interferieren. Deshalb betont die Schicksalsanalyse, wie übrigens alle tiefenpsychologischen Therapierichtungen, die Notwendigkeit, daß sich Psychotherapeuten während ihrer Ausbildung einer mehrjährigen intensiven eigenen Analyse ( „Lehranalyse") unterziehen und sich ständig um eine Humanisierung des eigenen Tun und Lassens, ihrer Werte und Einstellungen bemühen.

Es gibt nicht die Psychotherapie schlechthin, wie es auch nicht den Psychotherapeuten und den Klienten gibt. Das Unterschiedliche und Einmalige machen das Menschliche an uns und an unseren Therapien aus. Therapeutisches Arrangement und die psychosoziale Identität bilden eine funktionale Einheit. Therapeutische Hilfe wird dann unwahrscheinlicher, wenn zwischen psychotherapeutischer Praxis und der ihr inhärenten Theorie und Weltanschauung einerseits und den Werteinstellungen und Erwartungen der Hilfesuchenden andererseits eine unüberbrückbare Kluft besteht.

Bescheidenheit als Haltung in unserem therapeutischen Bemühen mag aus der Einsicht Szondis (1 963, 55) erwachsen, daß die therapeutische Beziehung und damit auch die Heilung ein „Rätsel" darstellen, das sich der rationalen Durchdringung weitgehend entzieht.

4. Schicksalspsychologie als Polaritätenpsychologie

Szondi (1972, 68, 209, 399; 1954) begreift das menschliche Leben primär als immerwährenden Wandel, als Werden, als Kreislauf und Dynamik. Das Schicksal, der Lebenslauf eines Menschen ist die Geschichte seiner Wandlungen (Szondi 1956, 15 2 f.). Die Dynamik des Wandels stammt aus dem dialektischen Wechselspiel von komplementären Polaritäten. Szondi sieht alle Manifestationen der physikalischen und seelischen Wirklichkeit, die Planmäßigkeiten, Gestaltungen und Strukturen des Lebens als Resultanten des dynamischen Zusammenspiels von sich bedingenden Polaritäten (Szondi 1972, 209). Was uns als relativ stabile Struktur der physikalischen und seelischen Welt imponiert, ist in Wahrheit lediglich „partielles" und „episodisches" Übergangsphänomen eines zyklischen Prozesses (Szondi 1956, 33 ff., 157). Scheinbar stabile Lebensmuster und Lebensäußerungen, Formen und Figuren der physikalischen Welt sind im Grunde genommen Ausdruck eines dynamischen Gleichgewichts zwischen komplementär aufeinanderbezogenen Polaritäten. Augenscheinlich Unverrückbares ist in Tat und Wahrheit ein Übergangszustand.

Szondis Schicksalspsychologie ist geprägt durch die intuitiv gewonnene Überzeugung, daß in jedem komplementären Gegensatzpaar (Polarität) die Pole dynamisch und untrennbar aufeinander bezogen sind und eine Einheit bilden. Nach Szondi gilt es deshalb nicht einseitig nach dem Guten zu streben und das Böse zu vertreiben, sondem vielmehr Gut und Böse als zwei Seiten der eigenen Ganzheit wahrzunehmen und sie in einem dynamischen Gleichgewicht zu halten (Szondi 1969; 1972, 209, 23 1; 1973).Wo der eine Pol wächst, nimmt der andere ab; wo der eine abnimmt, wächst der andere.

Der Schicksalstherapeut erblickt die Lebensaufgabe des Menschen auf seinem Weg zur Menschwerdung darin, seiner Polaritäten innezuwerden, sie nicht zu trennen, sondem in einer komplementären Beziehung zu belassen, um sie letztlich in einer sie überbrückenden Einheit aufgehen zu lassen. Auf dem Wege der Mensch- und Personwerdung gilt es, immer wieder zu vermeiden, was uns in die Abhängigkeit von einem einzelnen Pol bringen könnte.

Aus der Polaritätenlehre ergibt sich ein für die Schicksalspsychologie wichtiges Verständnis für Gesundheit und Krankheit. Gesund ist ein Mensch, der seine seelischen Dualitäten in komplementäre Gegensatzbeziehungen (Polaritäten) zusammenzuführen und deren relatives Gleichgewicht zu behalten weiß.

Vermag ein Mensch die Spannung des komplementären Zusammenspiels von Polen nicht zu ertragen, entstehen dualistische Gegensätze, die zu Leid und Erkrankung führen können. Der „Homo humanus", nach Szondi ein Mensch, dem die Integration der Polaritäten gelingt, gelangt bisweilen sogar jenseits dieser Gegensätze, in den Bereich der „coincidentia oppositorum" und somit zur Überwindung und Befreiung von leidbringenden Dualismen (Szondi 1972, 96, 169).

5. Die Traumpsychologie

In der Sicht der „Partizipationstherapie des Traumes" nach Szondi versucht der träumende Mensch spontan mit seinen nichtgelebten Seiten, mit seinem „Hintergänger", in Kontakt zu treten, um sie sich wieder als die eigenen Möglichkeiten anzueignen und sie zu integrieren. Mit anderen Worten versucht der in sich gespaltene und sich entfremdete Mensch mit sich selber wieder eins zu werden. Im Traum ist der Mensch zugleich Regisseur und Akteur. Träumen ist ein „autogener Partizipations- und Integrationsversuch" des Menschen, der seiner ursprünglichen Ganzheit verlustig gegangen ist (Szondi 1956, 466, 504-506).

Aus dem szenisch-dramatischen Traumverständnis folgert Szondi, daß nicht nur das Deuten von Träumen, sondern das Wiedererleben des Geträumten durch den wachen Menschen das eigentlich Heilsame darstellt. Da Szondi die abgespaltenen, ungelebten und unbefriedigend realisierten Existenzmöglichkeiten auch als familiäre „Ahnenansprüche" aus dem familiären Unbewußten begreift, stellt das Träumen vielfach auch eine Begegnung rnit den Ahnen dar. Szondi spricht dann auch von „Ahnenträumen".

In Ahnenträumen vermag der träumende Mensch von den ihm begegnenden Traumgestalten her, seien sie gesund oder krank, die eigene Möglichkeit der Weiterentwicklung oder existentiellen Bedrohung zu vernehmen. Der Mensch hat sich in besonderer Weise mit jenen Entfaltungs- und Erkrankungsmöglichkeiten auseinanderzusetzen, die in der generationenübergreifenden Familiengeschichte von Vorfahren in auffälliger Wiederholung gelebt worden sind, sei es in gleicher oder verwandter Form (Beeli 1987; Kürsteiner 1980).

Die Schicksalspsychologie zeigt ein dreidimensionales Verstehen des Geträumten im Rahmen der Traumtheorien nach Freud, Jung und Szondi. Denn der dem Träumenden begegnende Hintergänger enthält stets in wechselndem Verhältnis persönliche verdrängte, archetypische und familiäre Anteile, die dem persönlichen Unbewußten, dem kollektiven und dem familiären Unbewußten entstammen. Die Aktualität Szondis im therapeutischen Umgehen mit Träumen zeigt sich darin, daß seine Ansätze heute in anderen Schulen weiterentwickelt und Allgemeingut werden: So besteht z. B. zwischen schicksalsanalytischem und gestalttherapeutischem Traumverständnis eine verblüffende Übereinstinimung bis in Einzelheiten der theoretischen Ausformulierung (Bürgi 1981; Perls 1976). In Anbetracht holistischer und transpersonaler Therapiemodelle sei hier auf Zukunftsträchtigkeit und mögliche Weiterentwicklung gerade der schicksalspsychologischen Traumforschung hingewiesen.


6. Kain, Abel und Moses - Sinnbilder des Daseins

Der Polarität von „Kain" und „Abel" und ihrer Integration in der Figur „Moses" kommt eine besondere Bedeutung zu, da nach schicksalspsychologischer Auffassung ihrem schöpferischen Zusammenwirken die herausragenden humanen Errungenschaften wie Gewissen, Ethik und Gesetze zum Schutze des Lebens entspringen.

Die „tötende Gesinnung" des Menschen, das „Böse" des Menschen, wird durch Kain, die Gewissensnot durch Abel, die ethische Ausrichtung des Gerechten durch Moses symbolisiert. Diese biblischen Gestalten sind Symbole menschlicher Schicksale, die durch ihre polar-komplementäre Natur bzw. Integration untrennbar zusammengehören. In jedem Kain wirkt ein Abel und in jedem Abel ein Kain (Szondi 1969; 1973).

Die seelische Wandlung von der tötenden Gesinnung Kains über die nachfolgende Anerkennung von Schuld und den Drang zur Wiedergutmachung Abels bis hin zur Errichtung der ethischen Norm gegen das Töten durch Moses entspringt in schicksalspsychologischer Perspektive ein und derselben Affektdynamik.

7. Die Aggressionstheorie der Schicksalspsychologie

Das vierdimensionale, nach vier Lebensbereichen (Vektoren) ausgerichtete Triebsystem der Schicksalspsychologie bildet für Szondi (1980) den Ausgangspunkt einer differenzierten Typologie aggressiven Verhaltens.

Die Schicksalspsychologie unterscheidet vier Arten bzw. Qualitäten menschlicher Aggression, die je ihre eigenen Bedingungen und spezifischen Energien aufweisen, sich jedoch miteinander vielfältig verschränken können.

1. Die lustbedingte, lustsuchende Aggression manifestiert sich als sexueller Sadismus, Masochismus und Sadomasochismus.

2. Die affektbedingte, kainitische Aggression nährt sich aus Affektenergien und äußert sich in anfallsartigen Affekthandlungen, auf die meist eine Phase des Wiedergutmachens folgt.

3. Die ichhafte, alles verneinende, die Welt und sich zerstörende Aggression drückt sich in den vielfältigen Formen des Werte und Ideale zerstörenden Negativismus und im durch Ideologie motivierten Vernichten aus.

4. Die Frustrations-Aggression auf Grund des Zukurzgekommen- und des Nichtangenommenseins im Sozial- und Kontaktleben kann im Extremfall zu terroristischen und extremistischen Vergeltungs- und sog. Befreiungsaktionen von Vertretem unterdrückter Gesellschaftsklassen, Volksgruppen und Nationen führen.







8. Schlußwort

Auf wenigen Seiten haben wir die Grundlagen, Methoden und den Anspruch der Schicksalsanalyse in geraffterForm dargestellt.Lassen wir zum Schluss noch einmal Leopold Szondi (1956, 52) zu Worte kommen: „Wir sagen: Schicksal ist Wahl und unterscheiden zwei Arten von Wahlhandlungen.

Erstens die unbewußten, von den Erbanlagen gelenkten Wahlhandlungen. Hier lenken die unbewußten Ahnenansprüche die Person in der Wahl in Liebe, Freundschaft, Beruf, Krankheitsform und Todesart. Wir nennen das Stück des Schicksals, welches durch die latenten Ahnenbilder … unbewußt zustande kommt, das familiäre Zwangsschicksal.

Zweitens die bewußten, von dem persönlichen Ich der Person gelenkten Wahlhandlungen. Dieses Stück des Schicksals ist unser persönliches Wahlschicksal. Das familiäre Zwangsschicksal und das persönliche Wahl-

(oder Ich-) Schicksal machen die Ganzheit des Schicksals aus.

Die eigentliche Schicksalsanalyse als Heilweg besteht somit, rein theoretisch gesehen, aus folgenden zwei Phasen:

Die erste Phase ist die der Bewußtmachung und Konfrontierung des Patienten mit seinen unterdrückten Ahnenansprüchen. Diese Phase ist die Analyse des Zwangsschicksals. Die zweite Phase ist die der Ich-Analyse und der Glaubensfunktion, d. h. die Analyse der Verbindung des Ichs mit dem Geist. Diese Phase entspricht somit der Analyse des Wahlschicksals. Die Aufgabe des Schicksalsanalytikers besteht somit darin, den Zwang in seinen - des Klienten - Wahlhandlungen bewußt zu machen und das Schicksal der Person durch Umbau und Stärkung des Ichs in der Richtung des bewußten Wahlschicksals zu verschieben."

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c 1996-2000 Leo Berlips, JP Berlips & Jens Berlips, Slavick Shibayev